Obwohl in den siebziger Jahren einige Theorien aufgestellt wurden, die Sprungtemperaturen oberhalb 30 K als unmöglich bewiesen, versuchte man weltweit experimentell, neue Supraleiter mit höheren Sprungtemperaturen zu finden. Neben dem Traum von der Raumtemperatursupraleitung war schon das realistischere Ziel einer billigen und weniger aufwendigen Kühlung eines der Motive. Nachdem 1986 Bednorz und Müller in den Kupferkupraten erstmals Sprungtemperaturen oberhalb 30 K ("Hochtemperatursupraleiter") nachwiesen,
29 wurde schon 1987 das YBa
2Cu
3O
7-x (kurz YBCO) mit T
c ≈ 90 K entdeckt.
30 Damit lag man deutlich über der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff (77,4 K), einen im Vergleich zum flüssigen Helium (4,2 K) deutlich preiswerterem und weniger aufwendigem Kühlmittel.
Daher begann 1987/88 auch an der FSU der Übergang zu den Materialien der Hochtemperatursupraleitung (HTSL) jedoch ohne die Tieftemperatursupraleiter (TTSL) zu vernachlässigen. Im PTI Jena wurden dazu ein Projekt zur Abscheidung von HTSL-Schichten mittels Sputterdeposition (8 VbE) und eines zur Einkristallzüchtung (11 VbE) der neuen Supraleiter begonnen (E. Steinbeiss, W. Gawalek, P. Görnert u.a.).
In einem relativ klein gehaltenen Projekt (3 VbE) "Schaffung der Grundlagen zur Herstellung von Dünnschicht-SQUIDs, Bolometern und Streifenleitern auf der Basis von HTSL-Schichten" wurde an der FSU parallel dazu die Herstellung von YBCO-Schichten mittels Laserdeposition in Angriff genommen. Obwohl sich die dafür mit viel Tricks beschaffte UHV-Anlage von Leybold dafür als nicht nötig erwies, da für gute Schichten ein Sauerstoffrestdruck erforderlich ist, legten Michael Siegel und Karin Zach in dieser Zeit die Grundlagen für eine moderne HTSL-Dünnschichttechnologie. Zum Verständnis der neuen Supraleiter und ihrer Anwendung unter Nutzung der Josephsoneffekte wurden Punktkontaktspektroskopie und theoretische Modellierung (Paul Seidel) vorangetrieben, wozu dann bereits 1989/90 erste internationale Publikationen erschienen.
31,32,33
In diese Zeit fallen auch die B-Promotionen ("Habilschriften") von Michael Siegel und Paul Seidel mit ersten Kapiteln zu HTSL und natürlich die politische Wende. Diese führte unter anderem zur Auflösung des WB Detektorenphysik und zur Neuformierung der Arbeitsgruppen "Tieftemperaturphysik" (Paul Seidel) und "Kleine Strukturen" (Wolfram Krech) innerhalb des neu gegründeten Institutes für Festkörperphysik (IFK) an der FSU Jena.
Gute Traditionen wurden dabei fortgeführt, beispielsweise das Symposium "Supraleitung und Tieftemperaturphysik" in Georgenthal, das 1990 erstmals wirklich international wurde und zu einem bei World Scientific Singapore erschienen Tagungsband führte.
34
Mit Hilfe der WE - Heraeus - Stiftung wurde dann 1991 auch erstmals die Tagung Kryoelektronische Bauelemente in den "Neuen Bundesländern" durch die FSU Jena organisiert und in Reinhardsbrunn durchgeführt.
Im Januar 1991 startete eine Reihe erfolgreicher BMBF-Großprojekte zur Supraleitung mit dem Zweijahresprojekt "Entwicklung und Untersuchung von Josephsonkontakten und SQUIDs auf der Basis von HTSL-Schichten". Mit Umstrukturierung des PTI zum IPHT erfolgten eine Reihe gemeinsamer oder sich komplementär ergänzender Projekte, verbunden mit umfangreichen technischen Investitionen. Ein Teil der Mitarbeiter und Projekte wurde in den neu geschaffenen Bereich "Kryoelektronik" (Eckhardt Hoenig) am IPHT überführt, der mit umfangreicher Reinraumtechnik wichtige Voraussetzungen für den Standort Jena insgesamt bekam (siehe Kap. 6).
Weitere Projekte in den Folgejahren konzentrierten sich auf HTSL-Josephsonkontakte, HTSL-Dünnschichtbauelemente auf Substraten der Halbleiterelektronik und Hybride Magnetfeldsensorarrays.
Bild 13: 1 Teilbild: Zwei HTSL-SQUIDs aus einer YBCO-Schicht auf einem Bi-Kristall-Substrat. 2 Teilbild:Kompaktes MKG-System mit HTSL-SQUIDs für Einsatz in klinischer Umgebung
Der Tradition in der biomagnetischen Forschung folgte ein Herzmonitorsystem mit HTSL-SQUIDs (Bild 13, erstes Teilbild) das schließlich in Kooperation mit der medis GmbH Ilmenau und dem Biomagnetischen Zentrum zu einem Prototypen für klinische Test in der Myokardinfarktforschung führte. Damit konnten weltweit erstmals unabgeschirmte Messungen in Klinikumgebungen demonstriert werden
35,36,37,38 (Bild 13, zweites Teilbild).
Erwähnen sollte man auch die erfolgreichen Aktivitäten zum Einsatz von HTSL-SQUIDs auf dem Gebiet der zerstörungsfreien Werkstoff-Prüfung, wobei hier auch die Kooperation mit PolyOptik Bad Blankenburg, dem IMG Nordhausen und der Siemens AG Erlangen zu nennen sind
38,39(Bild 14).
Mit der konsequenten Beibehaltung der Kompetenzen in Supraleitung, Kryoelektronik und Tieftemperaturphysik und derem massiven Aufbau war auch die Realisierung eines neuen Heliumverflüssigers notwendig geworden, der 1992 die alte Maschine ablöste. Neben der Flüssigkühlung mit Helium und Stickstoff zeichnete sich auch der konsequente Übergang zu Kleinkühlern ab. Auch hier konnte auf vorhandene Ansätze und frühere Arbeiten zurückgegriffen werden. Im Sommer 1993 startete das erste Kühlerprojekt „Entwicklung eines Kaltkopfes für einen Pulse-Tube-Kühler“, das maßgeblich durch Matthias Thürk und seine Erfahrungen mit Kühlereigenbauten geprägt wurde. In den Folgejahren wurde auch international diese störungsarme Kühltechnik massiv ausgebaut, wozu die Jenaer Gruppe bis heute viel beachtete Beiträge erbringt.
40,41,42,43 Die anwendungsfreundlichen Kühler werden dabei zunehmend gemeinsam mit der Industrie konzipiert und entwickelt, wobei stellvertretend Leybold Köln, Röntec Berlin, ILK Dresden und Air Liquide Grenoble genannt werden sollen (Bild 15).
Bild 14: Messplatz zur zerstörungsfreien Prüfung mit HTSL-SQUIDs. Bild 15: Störarmer Pulsrohrkühler, der in einem gemeinsamen Projekt mit der Leybold AG Köln entwickelt wurde
Gezielt ausgedehnt wurde der nutzbare Temperaturbereich auch auf Temperaturen unterhalb der Siedetemperatur von flüssigem Helium. Mit dem 1996 eingeweihten He3-He4-Mischungskryostaten wurde das "kälteste Labor" Thüringens in Betrieb genommen und erstmal Temperaturen von 7 mK in Jena realisiert. Spätere Eigenbauten von Thomas Wagner, der diese Linie auch nach seinem Wechsel in das IPHT fortführte, folgten, so dass ein umfangreiches technisches Potential auch für Einzelelektronen-Bauelemente und supraleitende Qubits die Voraussetzungen schafft.
Auch die bauliche Substanz wurde in der Nachwendezeit rekonstruiert und erweitert. Das "gelbe Haus" am Helmholtzweg 5 wurde umfassend saniert und 1998 wieder bezogen, wobei eine magnetisch geschirmte Kammer, ein Faraday-Raum und umfangreiche kryotechnische Spezialinstallationen die Arbeitsbedingungen weiter verbesserten. 2004 kam im Rahmen des SFB/TR7 "Gravitationswellenastronomie" das neue Labor für kryogene mechanische Gütemessungen an optischen Komponenten im ehemaligen Betatronbunker hinzu. Damit stehen beste technische Bedingungen für die Forschungsarbeiten zur Verfügung.
44 Inzwischen konnte mit gemessenen mechanischen Güten von 3x10
+8 der Anschluss an die Weltspitze auf diesem Gebiet hergestellt werden (Bild 16).
Die gute Position der Jenaer Gruppen in der internationalen Forschergemeinschaft wird durch viele Publikationen, Kooperationen, Tagungen und andere Aktivitäten sichtbar. Seit der Gründung des europäischen Exzellenznetzwerkes zur Supraleitung (SCENET) im Jahre 1997 gehört Jena mit FSU, IPHT, der JenaSQUID GmbH & Co. KG und Supracon AG sowie der TU Ilmenau zum Kreis dieser inzwischen über 80 europäischen Forschungseinrichtungen und Firmen. Paul Seidel ist Gründungsmitglied und seit kurzem Boardmember der 1999 gegründeten Europäischen Gesellschaft für Angewandte Supraleitung (ESAS) und wurde 2000 für 6 Jahre in das International Advisory Board der Applied Superconductivity Conference (ASC) gewählt.
Auch das jüngste EU-Projekt "BIODIAGNOSTICS" knüpft an die Jenaer Traditionen und Erfolgskonzepte an. Gemeinsam mit dem Biomagnetischen Zentrum (Jens Haueisen, inzwischen TU Ilmenau) sollen in einem Verbund mit 12 europäischen Partnern die Möglichkeiten von magnetischen Nanoteilchen für Biologie und Medizin weiter analysiert werden. Die FSU wird sich dabei auf räumlich und zeitlich aufgelöste Messtechnik (Magnetorelaxometrie, MRX)
45 mit LTSL- und HTSL-SQUIDs konzentrieren (Bild 17).
Bild 16: Messplatz zur kryogenen Gütemessung optischer Komponenten. Bild 17: Messplatz für temperaturabhängige Magnetrelaxation (T-MRX) mit TTSL-SQUID
Literatur
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